Rennrad in England boomt, British Cycling hat längst seine Vormachtstellung von der Bahn auf die Straße ausgedehnt und keine Ausfahrt auf der Insel, auf der einem den Wetterbedingungen zum Trotz nicht unerwartet viele Zweirad-Enthusiasten begegnen. Wenn es dann auch noch eine Veranstaltung gibt, die als “Britain’s Premier Cycle Sportive” angekündigt wird und von der in der Community nur in höchsten Tönen geschwärmt wird, kann es wohl keinen Zweifel mehr daran geben, was zum Jahresziel erkoren wird.
Ausgangspunkt ist das nette kleine Städtchen Grasmere, das als einer der schönsten Orte des Lake Districts gilt. Und das heißt was, denn was für ganz England gilt, hat auch im Lake District Gültigkeit: Haus und Garten werden gepflegt, gehegt und erhalten, wie sonst kaum wo auf der Welt. Von Steinmauern und Rosenhecken umgebene Städtchen und Cottages machen wahrlich so manches Home zum Castle.
Man kann also fast keinen idealeren Ausgangspunkt im Lake District wählen, als eben dieses Grasmere, was dann zusätzlich noch den Vorteil hat, dass Registrierung und Startnummernausgabe am Vortag der Fred Whitton Challenge ohne großen Aufwand in wohltuender, britischer Ruhe über die Bühne gehen.
Auch am entscheidenden Tag lassen die Briten erst gar keine Hektik aufkommen. Das gewohnte nervöse, teils aggressive Gedränge am Start wird geschickt durch einen fliegenden Start vermieden, wobei jeder Teilnehmer nach Belieben seine Startzeit zwischen sechs und acht Uhr morgens wählen kann.
Nachdem die Fred Whitton Challenge über alle großen Pässe des Lake Districts führt und es doch etliche dieser zwar allesamt nicht sehr langen, dafür aber umso steileren Anstiege gibt, ist es dann aber bald nach dem Start vorbei mit der Ruhe. Neun Kilometer müssen zum Einrollen reichen, bevor mit dem Kirkstone Pass gleich der höchste befahrbare Pass des Lake Districts wartet. Doch obwohl der Kirkstone mit Abstand der längste Anstieg ist, soll man sich auf der Passhöhe nicht zu sehr in Sicherheit wiegen und die im Vorfeld gehörten Horrorgeschichten von den absurd steilen Anstiegen nicht zu schnell als Ammenmärchen abtun. Die hier gefahrene Südauffahrt ist nämlich nicht nur der mit Abstand leichteste der drei Anstiege auf den Kirkstone Pass, sondern insgesamt für den Lake District außergewöhnlich flach.
Nach der rasanten Abfahrt, die für Geschwindigkeits-Enthusiasten nicht viele Wünsche offen lässt, geht es einige Kilometer dem Ullswater, dem zweitgrößten See im Lake District, entlang, bevor der nächste, ebenfalls noch relativ leichte Anstieg folgt.
Ist auch dieser bezwungen, folgen die mit Abstand reizlosesten Kilometer der Runde auf der Schnellstraße bis Keswick. Doch auch diese liegen bald hinter uns, und der folgende Abschnitt dem Derwent Water entlang hinein in das liebliche Borrowdale lassen dann das Rennradler-Herz wieder höher schlagen.
68 Kilometer sind zurückgelegt und allmählich fragt man sich, wo jetzt die großen Schwierigkeiten bleiben, insbesondere da die nächste Passhöhe laut Plan auch nur mehr 2,5 Kilometer vor uns liegt. Und doch erweist sich der Honister Pass, der sich ab dem Weiler Seatoller unvermittelt und gnadenlos aufbäumt, als erster Knackpunkt. Die Kunst ist nämlich weniger, die Fred Whitton Challenge zu absolvieren, als sie vielmehr durchgehend zu fahren. Viele der Teilnehmer schieben über die steilsten Abschnitte, was angesichts der Oberschenkel zerreissenden Steilheit einiger Abschnitte nur allzu verlockend ist. Zeitlich macht das keinen großen Unterschied, denn in den engen, bis zu 30% steilen Rampen erreicht man ohnehin nicht viel mehr als Schrittgeschwindigkeit und der Radcomputer wechselt wiederholt den Modus zwischen Aufzeichnen und Pause.
Am Honister Pass ist der untere Kilometer der mit Abstand steilere. Sobald die Baumgrenze erreicht ist, nimmt auch die Steigung deutlich ab und man kann den Rest des Anstieges in der nun erreichten kargen Wildnis fast schon genießen.
Viel Zeit zur Erholung bleibt nicht, denn die Straße stürzt sich unmittelbar von der Passhöhe steil ein einsames und rauhes Hochtal hinab. Im Kampf gegen die von Norden eindringenden Normannen im 11. Jahrhundert wurde diese kaum zugängliche Gegend zum Hauptquartier des Widerstands erkoren und trotz vieler Kämpfe ist es der normannischen Übermacht nie gelungen, diese Gegend vollständig zu beherrschen.
Hat man den wunderschönen Buttermere See passiert, kommt man beim gleichnamigen Dorf zur ersten Labestation. Etwas Zeit sollte man hier auf jeden Fall einplanen: erstens weil es wirklich eine große Auswahl an süßen und pikanten Leckereien gibt und zweitens um die britische Disziplin am Buffet ganz tief aufzusaugen und hoffentlich zu verinnerlichen. Geduldig wird eine Warteschlange gebildet und man vermißt jegliches Geraunze, wenn sich einer nach dem anderen auch noch so lange nicht entscheiden kann und eine gepflegte Plauderei mit den Damen des Ortes hält.
Eine kleine Pause tut aber ohnehin gut, denn mit dem ebenfalls nicht gerade leichten Newlands Pass und dem dann doch deutlich flacheren Whinlatter Pass warten unmittelbar im Anschluss zwei weitere Anstiege.
Damit liegen die Berge des Lake Districts erst einmal hinter uns und im zwar noch hügeligen, aber insgesamt doch deutlich sanfteren Gelände geht es südwärts. Von den zahlreichen sanften Anstiegen, von denen sich lediglich der Anstieg auf das Cold Fell deutlich im Höhenprofil abhebt, hat man wunderbare Blicke über die Irische See bis hin zur südlichsten schottischen Council Area Dumfries and Galloway sowie zur Isle of Man. Noch wesentlich idyllischer wären diese Blicke von den von unzähligen Schafen übersäten Hügel allerdings ohne das unübersehbare Atomkraftwerk Sellafield, dessentwegen vom Schwimmen in der Irischen See dringend abgeraten wird.
Bei Calder Bridge kommt man zur zweiten Labestation und dann schwenkt die Runde allmählich Richtung Osten um, wieder hinein in die Berge. Und was das heißt, ist jedem klar.
Noch ohne große Schwierigkeiten geht es entlang der elf Kilometer langen Museums-Eisenbahn, die 1875 als erste Schmalspur-Eisenbahn Englands zum Abtransport des damals noch gewonnenen Eisenerzes eröffnet wurde, das Eskdale hinein. Und am Ende dieses Tales wartet kein geringerer als der berüchtigte Hard Knott Pass. Schon von weitem kann man fast den gesamten Anstieg überblicken, und dass die überwiegende Mehrheit schiebt, trägt nicht gerade zur Beruhigung bei. Unterteilen lässt sich der Hard Knott in einen überaus steilen unteren Teil, einen flacheren mittleren Abschnitt im Bereich des links der Straße gelegenen römischen Forts und zu guter letzt dem fast unbezwingbaren Abschluss mit der gefürchteten S-Kurve, in der die Steigung auf sagenhafte 30% zunimmt.
Hat man sein Rad dieses Monster erst hochgewuchtet, wartet einerseits die Befriedigung, das Schwerste hinter sich zu haben, andererseits aber am Horizont bereits der nächste Anstieg.
Zuerst gilt es allerdings die ebenfalls bis zu 30% steile Abfahrt vom Hard Knott zu meistern, bevor es durch das wunderbare Duddon Valley dem Wrynose Pass zu geht. Zwar werden auch hier, genauso wie auf den darauf noch folgenden letzten Anstieg des Tages auf den Blea Tarn House Lake-District-typische 20% erreicht, aber angesichts der bereits gemeisterten Schwierigkeiten kann uns jetzt nichts mehr aufhalten und vom Rad zwingen. Ist das Great Langdale erst erreicht, liegen dann tatsächlich alle Schwierigkeiten hinter, und ein Ale-reicher Abend angesichts dieser außergewöhnlich schönen und bestens organisierten Veranstaltung vor uns.
Grasmere
Grasmere - Ambleside - Kirkstone Pass - Keswick - Honister Pass - Newlands Pass - Whinlatter Pass - Cold Fell - Eskdale - Hardknott Pass - Wrynose Pass - Blea Tarn House - Grasmere