Der Tourismus im Lake District boomt. Kein Wunder, gilt er doch mit den höchsten Bergen, den größten Seen und den steilsten Pässen Englands als eine der schönsten Gegenden der Insel. Ein Großteil der Besucher sind allerdings Briten, während im Rest Europas der Lake District (noch) weitgehend unbekannt ist, insbesondere weiß kaum jemand, welch großartiges Rennrad-Paradies sich hier versteckt. Während die alljährlich im Mai ausgetragene Fred-Whitton-Challenge über alle namhaften Pässe der Gegend führt, lassen wir es mit dieser Runde im sanfteren Süden ruhiger angehen. Ideal also, um den Lake District und seine Eigenheiten kennen zu lernen.
Zwei Eigenheiten gilt es dabei besonders zu beachten: Einerseits die engen, verwinkelten und meist von Steinmauern gesäumten Sträßchen, die sich zwar wunderbar in die herrliche Landschaft einfügen, die aber in Kombination mit dem ungewohnten Linksverkehr doch einiges an Aufmerksamkeit erfordern. Und andererseits die enorme Steilheit der Anstiege. Kaum geht es bergauf, und das tut es im Lake District oft, hat man mit Steigungen jenseits der 20% zu kämpfen.
Und dass dem tatsächlich so ist, wird einem eindrücklich gleich zu Beginn der Runde klar gemacht. Gestartet wird in Grasmere, einem hübschen Ort im Zentrum des Lake Districts, der sich hervorragend als Ausgangspunkt anbietet. Noch bevor das Ende des gleichnamigen Sees erreicht ist, muss man schon das erste Mal ordentlich Kraft einsetzen, um hinüber ins Great Langdale zu wechseln. Locker werden die 20% geknackt und die Oberschenkel brennen, noch bevor die Drei-Kilometer-Marke erreicht ist.
Dann ist aber erst einmal genießen angesagt. Es geht das idyllische Great Langdale hinein und man kann leicht nachvollziehen, warum es so viele wanderbegeisterte Briten hierher lockt. So schön es hier auch ist: je weiter man in das Tal hinein radelt, wird einem doch zunehmend klar, dass man hier nur mit einiger Anstrengung wieder heraus kommt. Und tatsächlich zweigt kurz vor dem schönen Talschluss ein kleines Sträßchen Richtung Süden ab, das über den Blea Tarn House wunderschön, aber gnadenlos steil hinüber ins Little Langdale führt. Hat man den Talboden im Little Langdale erreicht, kommt man zu einer Kreuzung, wo sich die Spreu vom Weizen trennt. Rechts abzubiegen sollte man sich gut überlegen, türmen sich doch unmittelbar hintereinander zwei der schwersten Anstiege ganz Englands auf: der Wrynose und der Hardknott Pass. Erleichtert biegen wir diesmal links ab, mit der Ahnung im Hinterkopf, dass uns das heute Vermiedene in den nächsten Tagen noch blühen wird. (Cumbrian Monsters)
Da sich die Berge im zentralen Teil des Lake Districts tummeln und die Landschaft Richtung Süden hin immer sanfter wird, liegen die schwersten Hindernisse dieser Runde nun bereits hinter uns. Gänzlich flach ist zwar auch der Rest der Runde nicht, aber verglichen mit dem, was der Lake District uns sonst in den Weg wirft, kann man jetzt beruhigt den Fahrtwind genießen.
Zunächst bis Coniston noch mit etwas Verkehr, dann aber wieder weitgehend autofrei geht es Richtung Süden. Am Ostufer des Coniston Waters, dem drittgrößten See im Lake District, verläuft eine kleine Straße, die sich grundsätzlich ideal in eine Runde einbauen lässt. Wir haben allerdings den großen Fehler gemacht, die an diesem Wochendenden überall aufgehängten Tafeln zu ignorieren, die auf 5000 Wanderer/Läufer hinweisen, die sich wie jedes Jahr an einem Mai-Samstag unerschrocken die 40 Meilen des Keswick to Barrow Walks zumuten.
Eingepfercht in diesen nicht enden wollenden Menschenstrom war an ein vernünftiges Weiterkommen gar nicht erst zu denken und unsere Geduld wurde 15 Kilometer lang ganz gehörig auf die Probe gestellt. Sir Malcolm Campbell und sein Sohn Donald hätten wohl keine große Freude mit unserer Geschwindigkeit gehabt. Vater und Sohn haben nämlich auf dem Coniston Water Geschwindigkeitsrekorde für Rennboote aufgestellt. Der Vater hat es in den 1930er Jahren bereits auf knapp 230 km/h gebracht, bevor der Sohn in den 1950er Jahren den Weltrekord auf 418,99 km/h erhöhte. Ein weiterer Rekordversuch endete für Donald dann aber bei über 480 km/h fatal. Die Überreste des Bootes wurden erst 2001 gefunden und werden immer noch mühsam für das örtliche Museum zusammengesetzt.
Bei erster Gelegenheit lassen wir die Wanderer ihrer Wege ziehen und auf wunderschönen Sträßchen erreicht man wenig später Ulverston, unseren südlichen Wendepunkt. Eine kleine Extrarunde darf hier keinesfalls fehlen, gilt es doch dem berühmtesten Sohn der Stadt einen Besuch abzustatten, zumindest der Statue vor dem einzigen Laurel and Hardy Museum der Welt. Ulverston ist nämlich die Geburtsstadt von Stan Laurel, der es Jahre später in Amerika gemeinsam mit Oliver Hardy zu großer Berühmtheit gebracht hat.
Trotz dieser Sehenswürdigkeit hält es uns nicht allzu lange in Ulverston, zu groß ist die Hoffnung am Rückweg ähnlich schöne Sträßchen wie während der ersten Rundenhälfte vorzufinden. Ein noch viel größerer Motivationsfaktor ist allerdings der allmählich aufkommende Durst auf ein frisch gepumptes Ale, der uns wahre Flügel verleiht.
Um es nicht allzu spannend zu machen, beide Wünsche gehen in Erfüllung.
Die Hügel zwischen Coniston Water und dem Lake Windermere sind durchzogen von wie für uns Rennradler gemachten Straßen, so dass die Rückfahrt keine Wünsche offen lässt, zumal motorisierter Verkehr kaum anzutreffen ist.
Und das Ale bei unserer Ankunft in Grasmere ist auch noch nicht ausgetrunken, obwohl sich mittlerweile tausende britische Rennrad-Enthusiasten in dem kleinen Ort tummeln, die alle genau wie wir die am nächsten Tag stattfindende Fred-Whitton-Challenge zum Saison-Highlight erkoren haben.
Grasmere
Grasmere - Great Langdale - Little Langdale - Coniston - Ulverston - Hawkshead - Ambleside - Grasmere