Die große Stärkeprobe ist eine der bekanntesten Jedermann-Rennrad-Veranstaltungen weltweit. Jährlich zur Mittsommernacht nehmen mehrere tausend Unerschrockene die 540 Kilometer von Trondheim nach Oslo in Angriff. Das raue norwegische Klima mit oftmals instabilen Wetterverhältnissen und die beträchtliche Länge machen das Ganze zu einer echten Herausforderung und einem unvergesslichen Erlebnis gleichermaßen. Was läge also näher, als eine Norwegen-Woche mit diesem Highlight jedes Rennradler-Lebens zu beginnen.
Eines vorweg: Die Stärkeprobe ist nicht nur landschaftlich ausgesprochen schön, sondern auch perfekt organisiert. Allzu viel Aufwand ist es also nicht, dieses Abenteuer in Eigenregie in Angriff zu nehmen.
Wie immer und überall gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wie man die Organisation angeht. Wir haben uns hierfür entschieden:
Flug nach Oslo am Donnerstag. Wir haben einen verhältnismäßig billiges aber dafür auch kleines Appartement im Osloer Zentrum von Donnerstag bis Montag gebucht. Den Donnerstag Nachmittag verbringen wir mit dem Zusammenbau der Räder und einem Bummel durch Oslos Altstadt.
Zeitig am nächsten Morgen sitzen wir am Rad Richtung Bahnhof, wo Lastwägen für den Rädertransport und Züge mit eigens für die Radfahrer reservierten Waggons schon warten. Im Grunde verläuft die Bahnstrecke von Oslo nach Trondheim parallel zur E6, auf der auch die Stärkeprobe südwärts zieht. Ein Fensterplatz im Zug zahlt sich also aus, weil man schon einen Vorgeschmack auf Strecke und Landschaft bekommt.
Nach rund sechs Stunden Zugfahrt ist Trondheim erreicht und es bleibt noch Zeit für einen Stadtbummel. Man kann je nach angepeilter Fahrzeit seine Startzeit wählen. Wir haben uns für einen Start am Samstag Morgen entschieden und sind darüber auch ganz froh. Nach einer mehrstündigen Zugfahrt und dann nochmaliger mehrstündiger Wartezeit bis zu den Abendstartblöcken ab 22 Uhr, ist ein weiches Bett deutlich angenehmer als der harte Fahrradsattel.
Entsprechend erholt aber auch aufgeregt sitzen wir am nächsten Tag um sechs Uhr beim Frühstück, bevor wir uns zum Start im Trondheimer Stadtzentrum begeben. Die Lastwägen, die das überflüssige Gepäck nach Oslo bringen, warten schon. Alles klappt hier wirklich wie am Schnürchen.
In Startblöcken von jeweils bis zu 60 Fahrern werden die Wagemutigen im Fünf-Minuten-Abstand auf die Strecke geschickt. Die überwiegende Mehrheit der Fahrer sind in norwegischen Radvereinen organisiert, die teilweise bis zu 30 Fahrerinnen und Fahrer umfassen. Diese Vereine sind teilweise richtiggehend militärisch organisiert, um die angepeilte Zielzeit zu erreichen. Die Gruppen werden nach hinten abgeschirmt und eine Beteiligung an der Führungsarbeit ist nicht erwünscht. Mit einer Trillerpfeife ausgestattet, gibt der jeweilige Teamkapitän das Tempo vor. Einige Pfiffe hat es gedauert bis wir das System durchschaut haben: ein Pfiff: langsamer, zwei Pfiffe: schneller.
Es muss während der ersten Rennphase also oberstes Ziel sein, eine solche Gruppe mit einem passenden Tempo zu erreichen, um sich dann stundenlang durch Norwegen ziehen zu lassen.
So weit, so gut, so angenehm könnte man meinen, einen Haken hat die Sache allerdings. Die norwegischen Teams versorgen sich nämlich nicht an den offiziellen Labestationen, sondern unabhängig davon über Begleitfahrzeuge während kurzer Zwischenstopps. Da kommt unsereins dann des öfteren in die Zwickmühle und muss sich entscheiden: am Team dranbleiben und auf die Labestation verzichten, was bei 540 Kilometern natürlich nur bedingt möglich ist, oder zur Labestation abbiegen und auf das Team verzichten. Was wiederum dazu führt, dass man seine Lokomotive verliert und man alleine im Wind hängt.
Wir haben uns also für einen Start am Samstag Morgen entschieden und stehen um 7:15 pünktlich an der Startlinie. Da sich in unserem Startblock kein Team befindet, dauert es einige Zeit, bis sich das Ganze organisiert, dann finden sich aber einige Tapfere, die die Führungsarbeit übernehmen und zu unserem Schrecken ein horrend hohes Tempo anschlagen. Schlussendlich stellt sich das aber als unser großes Glück heraus, denn nach etwa 50 Kilometern fahren wir auf unsere Gruppe des Tages auf. Wir lassen die Schnelleren, von denen aber viele, wie sich noch herausstellen sollte, ihr Pulver zu früh verschießen, ziehen und ordnen uns hinter einer 30-köpfigen Abordnung des Stiftstaden Sykkelklubbs aus Trondheim ein.
Jetzt heißt es Ruhe bewahren und hinten bleiben. Eine übermütige Attacke in den äußerst langsam gefahrenen Anstiegen ist von vornherein zum Scheitern verurteilt und alle die es doch versuchen, werden kurz nach Ende der jeweiligen Steigung unter höhnischem Gelächter vom Zug wieder überrollt.
Orientierungsschwierigkeiten gibt es keine, die Route verläuft über weite Strecken auf der E6, der Hauptverbindungsstraße zwischen Trondheim und Oslo. Und da, wo sie davon abweicht, gibt es mehr als ausreichende Ausschilderungen und Streckenposten.
Man verläßt Trondheim in südlicher Richtung. Auf zunächst sanftes Hügelgelände, folgt ab Kilometer 50 der Anstieg auf den Dovrefjell. Kontinuierlich leicht ansteigend geht es hinauf zum höchsten Punkt der Strecke, der bei Kilometer 165 auf 1027 Metern Seehöhe erreicht wird. Dieser zweifellos landschaftlich schönste Abschnitt der gesamten Strecke durchquert den Dovrefjell-Sunndalsfjella-Nationalpark. Die im Nationalpark angesiedelten Moschusochsen und Fjordpferde lassen sich heute aber leider nicht blicken.
Nach einer rasanten Abfahrt erreicht man Dombas und weniger steil aber nach wie vor animierend schnell geht es durch das Gudbrandsdalen, Norwegens längstes Tal, in Richtung Oslo. Man erreicht den kleinen Ort Kvam. Das wäre grundsätzlich noch keine Erwähnung wert, wenn sich nicht hier die Streckenhälfte befinden würde. Es geht also unaufhaltsam dem Ziel entgegen, was allerdings bei noch zu fahrenden 270 Kilometern ein zwiespältiger Trost ist.
Nach weiteren 100 Kilometern im Gudbrandsdalen weitet sich das Tal und man kommt in die Olympiastadt von 1994 - Lillehammer. Hier verlässt man die E6 und die nun folgenden 100 Kilometer geht es die Westseite des Mjosa entlang. Der ist nicht nur Norwegens flächenmäßig größter See, sondern auch einer der tiefsten. Mit einer Tiefe von 400 Metern liegt sein Grund unglaubliche 330 Meter unter dem Meeresspiegel.
Unsere Fahrzeit beträgt mittlerweile doch immerhin über 16 Stunden und so allmählich geht selbst hier im Norden die Dämmerung in die Nacht über. Bei nur noch 70 offenen Kilometern lassen wir uns aber weder davon noch vom einsetzenden Regen aus der Fassung bringen und nach 18 Stunden 26 Minuten erreichen wir immer noch im Schlepptau des Stiftstaden Sykkelklub die Valhall-Arena in Oslo, wo selbst bei norwegischen Bierpreisen der erlösende Schluck unglaublich gut schmeckt.
Trondheim - Sokndal - Oppdal - Dovrefjell - Dombas - Kvam - Lillehammer - Gjovik - Eidsvoll - Lillestrom - Oslo